Bundes-Wochenlehrgang mit Martin Glutsch, 7. Dan
6. – 13. Juli 2019 im LZ Herzogenhorn
Das „Horn“ ist ein Mythos. Jedenfalls für Aikidokas. Für andere Sportler, die sich im Schwarzwald auf 1300 m Höhe für ihre Wettkämpfe fit machen lassen, vielleicht auch, aber für Aikidokas auf jeden Fall. Ich hörte vom Leistungszentrum Herzogenhorn schon, da hatte ich noch nicht mal einen Fuß auf die Matte gesetzt. 2001 war das. Die Twin Towers in New York standen noch, und ich sollte für „Brigitte Woman“ eine Professorin in Flensburg interviewen, die mit über 50 ihren 1. Dan im Aikido gemacht hatte. Aikido? Nie gehört. Aber ein paar Wochen nach dem Interview absolvierte ich beim HTBU in Hamburg mein erstes Probetraining. Ines Heindls Begeisterung war ansteckend gewesen, aber bis auf das „Horn“, von dem sie damals schon geschwärmt hatte, brauchte ich noch 18 Jahre!
Mir war das „Horn“ suspekt. Eine Woche lang nichts außer Aikido? Training morgens, mittags, abends? Und dafür ganz bis in den Schwarzwald? Mochten die anderen mit leuchtenden Augen zurückkommen, stolz ihre blaue Flecken und das, was sie gelernt hatten, präsentieren, mochten sie mit Nachtwanderungen prahlen, den Berg hinauf durch die dunkle Nacht, ohne Taschenlampe, aber mit zu viel Brombeerwein in der Birne, ich dachte: Nö! Ohne mich!
Aber dann war er plötzlich da, der Gedanke vielleicht doch noch den 1. Dan zu machen. Aber dafür muss man die Teilnahme diverser Bundeslehrgänge nachweisen, es sei denn, man beißt eine Woche lang die Zähne zusammen, und – schwups – werden im Pass 11 Trainingseinheiten der Gruppe A vermerkt. Mehr als genug. Das überzeugte mich, und so meldete ich mich zum Bundes-Wochenlehrgang mit Martin Glutsch, 7. Dan aus Böblingen, an.
Martin kannte ich nur vom Hörensagen. Ein sanftes Aikido würde er machen, hieß es. Wunderbar! Und dennoch: Eine Woche nichts als rollen, aufstehen, hinfallen, aufstehen, angreifen, rollen, aufstehen …
Mich fröstelt, als ich mit meinem Lieblings-Uke Christian auf dem Parkplatz ankomme. Morgens im Rheintal verströmte die Sonne noch Optimismus, jetzt am Nachmittag ist alles wolkengrau. Die schmucklosen mit Holzschindeln verkleideten Gebäude mitten im Naturschutzgebiet des Hochschwarzwaldes wirken wenig einladend. Eher Straflager als Wellness-Tempel, fährt es mir durch den Kopf.
Wir sind die ersten, die auf der Terrasse sitzen und den Blick über die grünen Streifen des Fußballplatzes hinauf zum Herzogenhorn schweifen lassen. Mit 1.415 Metern ist er nach dem Feldberg der zweithöchste Berg des Schwarzwaldes. Von dort oben kann man bei klarem Wetter von der Zugspitze bis zum Mont Blanc sehen.
„Ob man wohl Zeit hat, da mal hochzugehen?“, frage ich meinen Uke.
„Die Zeit schon“, sagt er. „Aber ob du die Kraft hast …“ Wahre Freunde erkennt man an der Art, wie sie einem im rechten Moment Mut machen.
So langsam trudeln die anderen Teilnehmer ein, 52 insgesamt, im Alter von 26 bis 82. Umarmungen, Schulterklopfen, Wiedersehensfreude. Ich kenne keine einzige Nase, bis plötzlich vertraute Gesichter aus Norddeutschland auftauchen. „Mensch, du hier?!“ Mit allem haben sie gerechnet, nur nicht mit mir.
Bleibt nur noch die bange Frage, mit wem ich meine holzgetäfelte Stube teile? Aber dann steht Maria aus Berlin vor mir. Wie für viele andere gehört das „Horn“ zu ihrem festen Jahresprogramm. „Es ist einfach schön, einmal im Jahr mit bekannten Gesichtern aus ganz Deutschland intensiv Aikido zu machen“, sagt sie, während sie mir das Dojo und das Schwimmbad zeigt. „Ich schwimme jeden Morgen vor dem Frühstück und nach jedem Training.“ Ach du liebe Zeit! Aber am nächsten Morgen stehe ich tatsächlich mit ihr auf und passe mich von da an freiwillig ihrem ganz persönlichen Horn-Rhythmus an.
Unsere Tage sind penibel durchgetaktet: 7.15 Uhr Wecken, 7.30 Uhr Schwimmen, danach Frühstück. 9.15 Uhr ab ins Dojo, Aufwärmen und Training bis 11.30 Uhr. Dann wieder Schwimmen, 12.30 Uhr Mittagessen (immer zu viel, weil lecker), Pause (Schläfchen oder Wanderung auf das Herzogenhorn oder beides), 15.15 Uhr ab ins Dojo, Training bis 17.30 Uhr. Danach Schwimmen, 18.30 Uhr Abendessen (wieder zu viel, weil s.o.), danach Zeit zur freien Verfügung. Die einen sind schon wieder auf der Matte und üben den Soft High Fall, die Fallschule des Aikikai, andere trinken auf der Terrasse ihr Bierchen und ich – ich laufe den Berg hinauf zu zwei Bänkchen vor dichtem Tannengrün, meine Telefonzelle, nur hier gibt es Empfang.
„Na, lebst du noch“, fragt spöttisch der Gatte. „Wie ist es denn so im Trainingslager?“
Ach, wie soll man das einem Menschen beschreiben, der die Leidenschaft seiner Angetrauten zwar toleriert, aber im Grunde seines Herzens nicht nachvollziehen kann. Aber ist es wirklich Leidenschaft? Was ist es bloß, was mich all die Jahre an dieser Sportart festhalten lässt?
„Leidenschaft ist etwas, das oft Leiden schafft“, hat mal ein kluger Mann gesagt. Daran muss ich denken, als ich die wohltuend belebende Wirkung eines Tekubi-osae am Handgelenk spüre.
„Das musch nett weh tue“, hat Martin in seiner netten schwäbischen Art gesagt. Leider hat das mein Uke nicht verinnerlicht. Aber wie auch? Es gibt in dieser Woche so viel zu lernen: „Net drücke, net schiebe, net ziehe, net zerre, net den Arm so hoch …“
Alles „net, net, net“, jedenfalls „net so“ wie wir es doch eigentlich gelernt haben. Was ist eigentlich mit der Tegatana? Jahrelang gab’s nichts wichtigeres, und jetzt spielt sie plötzlich so gut wie keine Rolle mehr? Wieso? Warum?
Es stimmt mich heiter und froh, dass auch die hochgraduierten Dane oft ein großes leuchtendes Fragezeichen über ihren Köpfen tragen wie die Thomy-Kochmütze aus der Werbung.
Wer Martin Glutsch schon von anderen Lehrgängen her kennt oder am besten in seinem Dojo trainiert, ist eindeutig im Vorteil. Alle anderen hören nur: „Net, net, net …“
Der Mann bewegt sich über die Matte mit einer lässigen Eleganz, die man fast erotisch nennen könnte, wenn man denn auf kleine drahtige Männer über 60, ohne Haare, dafür aber mit Hakama steht. Beeindruckend, faszinierend, ja atemberaubend ist das, was er uns zeigt, aber alle mal. Wie macht der das nur?
Mühelos, manchmal nur mit einem Finger, bringt er seine Angreifer aus dem Gleichgewicht, schiebt sie mit einer leichten Körperdrehung auf die Matte.
Ab und zu denke ich: Das ist jetzt leicht. Einfach Irimi ashi, Hand Richtung Zentrum, Gleitschritt nach vorne … Ja, und nun? Wie jetzt weiter? Hilfe?
Manchmal klappt eine Technik sogar auf Anhieb. Hurra! Zufriedenheit stellt sich für Sekunden ein – bis: „Net drücke, net schiebe …“ Die große Erkenntnis schon am zweiten Tag: Je leichter es aussieht, umso schwieriger ist es. Und wenn man glaubt, man macht es richtig, ist es garantiert falsch.
Maria gibt mir den Tipp, Notizen zu machen. Und so sitze ich auf unserem Balkon, starre erst auf ein leeres Blatt Papier, dann schicke ich den Blick hinauf zum Gipfelkreuz des Herzogenhorn: „Lieber Gott, bitte hilf mir, mich zu erinnern. Was haben wir gerade gemacht und wie?“
Aber Gott kennt sich mit Aikido nicht aus und verweist auf die Technik. Arno filmt und will CDs verschicken. Das muss dann irgendwie reichen.
Am Mittwoch nachmittag finden die Dan-Prüfungen statt. Martin schont die Prüflinge und uns am Morgen mit meditativen Übungen. Zeigefinger an Zeigefinger, dann den Blick vom Boden übers Zentrum hoch zur Schulter des Ukes führen. Wenn Martin es macht, weicht die Schulter des Ukes wie von Zauberhand zurück, und er verliert sein Gleichgewicht. Bei meinem Uke tut sich nichts, und wenn doch, dann: „Net drücke, net schiebe …“ Man könnte wahnsinnig werden.
Martin gibt zu, dass er manchmal selbst nicht so genau weiß, wie er es macht. „Stellt euch eure inneren Organe vor, und dann schiebt die Milz von links nach rechts …“ Aha, anatomische Kenntnisse können beim Aikido also auch hilfreich sein. Humor tut es aber auch.
Dann wird es Ernst. Das Dojo wird zum Ort der Prüfung für elf Aikidokas. Vom 1. bis zum 4. Dan wird geprüft. Ich erlebe Aikido in hoher Perfektion. Wer Aikido als Kampfsport belächelt, würde hier eines besseren belehrt werden. Aikido ist Kampfkunst, ja, aber es ist eine hohe Kunst und auch ein sehr anspruchsvoller Sport, der Nage und Uke alles an Konzentration, Koordination, Kooperation und Kondition abverlangt.
Mir wird schnell klar: Eine Woche im Trainingslager allein ist nicht genug, um für eine Dan-Prüfung gewappnet zu sein. Es erfordert ungemein viel Fleiß, Beharrlichkeit, eine große Frustrationstoleranz und einen echten Willen. Genau das haben alle Prüflinge an diesem Tag bewiesen und werden mit einer Urkunde belohnt.
„Vielleicht können wir uns hier im nächsten Jahr auch zu unserer ersten Dan-Prüfung wieder treffen“, flüstere ich Betsy aus Böblingen zu. Sie lächelt: „Ja, vielleicht!“
Dann wandere ich mit Christian und Rolf zur legendären Krunkelbachhütte. Die Sonne scheint, die Kühe glotzen uns wiederkäuend hinterher, der Käsekuchen ist köstlich. Das Leben ist schön, und
abends wird gefeiert. Werner und Bernhard haben ihre Gitarren mitgebracht, und das Sportleistungszentrum wird zur Hafenkneipe. Wir grölen und schunkeln zu norddeutschen Evergreens. Was für ein Abend! Ich feiere ausgelassen mit Menschen, die ich zum größten Teil vor einer Woche noch nie gesehen und nicht gekannt habe, und die mir in ihren Eigenarten auf und neben der Matte inzwischen seltsam vertraut sind. Vielleicht, denke ich, macht das den Zauber des „Horn“ aus. Aber vielleicht ist das auch das Geheimnis des Aikido. Dass sich Menschen auf der Matte treffen, die so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können. Ob groß, klein, dick, dünn, alt, jung, reich oder arm, Student, Rentner, Pastor, Amtsrichterin, Lehrerin, Krankenschwester, Elektroingenieur oder was auch immer – all das interessiert auf der Matte nicht, nur dass man als Nage und auch als Uke miteinander übt. Und zwar nicht nur Techniken, sondern ganz nebenbei auch Geduld und Gelassenheit. Auf der Matte stellen wir uns auf Menschen ein, konzentrieren uns auf das Hier und Jetzt, und was sonst im Alltag so ist, das wird eine Zeitlang einfach abgeschaltet.
„Ein Leben wie ein Baby – nur schlafen, kullern, essen“, fasst mein Uke die Zeit auf dem „Horn“ zusammen. „Es gibt nichts erholsameres!“
Meinen Knien fallen da wohl doch noch ein paar andere Formen der Erholung ein. Als wir uns am vorletzten Abend nach dem Abendessen zur Kata verabreden, denn früh übt sich, wer ein Meister werden will, protestieren sie vehement. Ich komme weder runter auf die Matte noch wieder hoch. Von Bettina und Marion, die mein Uke gebeten hatte, ihre geschulten Augen auf das Dargebotene zu werfen, höre ich nur mühsam unterdrücktes Lachen. Gut, dass nicht auch noch Arno mit seiner Kamera irgendwo steht. Mit allerletzter Kraft ziehe ich den peinlichen Akt durch, dann schleiche ich mich davon. Morgen ist auch noch ein Tag. Meine Knie und ich sind nicht mehr die Jüngsten. Deshalb lege ich jetzt lieber mal die Füße hoch.
Den Freitag aber stehen wir noch tapfer durch. Dann tauche ich ein letztes Mal mit Maria im Schwimmbad ab, treibe entspannt auf der Wasseroberfläche und grinse die Schwimmbaddecke an. Ich habe es geschafft! Ich war auf dem „Horn“, und es war phantastisch! Ich werde wiederkommen, wenn alles gut geht. Im nächsten Jahr. Zu Martin Glutsch, diesen großartigen, zurückhaltenden, sympathischen Meister aus Böblingen, der (auf der Matte) alles kann, sogar ein bisschen Hochdeutsch. Wer weiß, vielleicht mache ich dann auch den 1. Dan. Mal gucken. Wegen der Lehrgangspunkte brauche ich jedenfalls nicht wiederzukommen. Aber das war ohnehin der dämlichste Grund. Das „Horn“ ist das „Horn“! Einen anderen Grund braucht es nicht.
Petra Meyer-Schefe, Walddörfer SV, Hamburg